Nach welchen Kriterien entscheidet nun das Familiengericht?
Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist der Verbleib anzuordnen, wenn durch die Wegnahme das Kindeswohl gefährdet würde. Einzig und alleine entscheidend wäre in einem Rechtsstreit also die Frage, was für das Pflegekind das beste ist. Dieses sog. „Kindeswohlprinzip“ wurde vom Gesetzgeber inzwischen auch an anderer Stelle gesetzlich fixiert, nämlich in § 1697 a BGB.
Auch das höchste deutsche Gericht, das Bundesverfassungsgericht,
betont immer wieder, dass bei einer Interessenkollission zwischen dem
Kind und seinen leiblichen Eltern sowie den Pflegeeltern letztlich das
Kindeswohl bestimmend ist.
In der Entscheidung BVerfGE 68,176,187 betont etwa das
Bundesverfassungsgericht, dass auch die Pflegefamilie unter dem Schutz
des Art. 6 Abs. 1 und 3 des Grundgesetzes (GG) stehe. Zwar komme -so das
BVerfG – zwischen der verfassungsrechtlich anerkannten
Grundrechtsposition der Pflegeeltern und der von sorgeberechtigten
Eltern grundsätzlich den letzteren Vorrang zu. Ausschlaggebend sei
jedoch letztlich das Kindeswohl. Das Kindeswohl ist gegenüber dem
Elternrecht vorrangig.
Das Bundesverfassungsgericht hat auch sehr konkrete Kriterien für die gerichtlich zu prüfende Entscheidung aufgestellt. Es unterscheidet dabei zunächst danach, ob die leiblichen Eltern die Herausgabe eines Kindes in ihre Familie wünschen oder ob ein bloßer Pflegestellenwechsel gefordert ist.
Verlangen die leiblichen Eltern bzw. ein Amtsvormund die Herausgabe
des Kindes, damit dieses zukünftig in seiner Herkunftsfamilie aufwachsen
soll, so muss das Familiengericht eine Verbleibensanordnung erlassen,
wenn eine schwere und nachhaltige Schädigung des körperlichen oder
seelischen Wohlbefindens des Kindes bei seiner Herausgabe zu erwarten
ist (vgl. BVerfGE 68,176,190). Geht es dagegen um einen bloßen
Pflegestellenwechsel, so ist einem Herausgabeverlangen nur dann
stattzugeben, wenn mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist, dass
die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern mit psychischen oder
physischen Schädigungen verbunden sein kann (BVerfGE 75,201,220).
Das Verfassungsgericht setzt die Schwelle bei einem Herausgabewunsch der
leiblichen Eltern wegen der Elterngrundrechte also etwas geringer an.
Gleichwohl macht das Verfassungsgericht klar, dass alleine die Dauer
eines Pflegeverhältnisses zu einer Verbleibensanordnung nach § 1632 IV
BGB führen kann, wenn anderenfalls eine Kindeswohlgefährdung zu erwarten
ist.
Entscheidend für den Ausgang eines entsprechenden Verfahrens ist also die Frage, inwieweit ein Abbruch der Bindungen noch zumutbar ist. Es handelt sich hierbei um eine kinderpsychologische Fragestellung. Um diese Feststellung zu treffen, fehlt den Richterinnen und Richtern regelmäßíg die eigene Sachkunde. Das Gericht muss daher vor seiner Entscheidung ein kinderpsychologisches Sachverständigengutachten einholen (vgl. Palandt, Kommentar, § 1632 Rnd 20 mwN). Das Gericht bestellt in aller Regel eine Dipl. Psychologin oder einen Dipl. Psychologen, ggf. auch einen Kinderpsychiater. Bei der Auswahl des Gutachters sollte unbedingt darauf geachtet werden, ob der entsprechende Gutachter bzw. die Gutachterin über Kenntnisse und Erfahrungen auch im Bereich der Bindungsforschung verfügen.
Das Gutachten muss sich regelmäßig mit zwei Fragestellungen auseinandersetzen:
Zum einen ist zu prüfen, ob überhaupt bei den leiblichen Eltern eine
Erziehungsfähigkeit vorliegt. Hier muss sogar ein über das normale Maß
hinausgehende Erziehungsfähigkeit verlangt werden, um die negativen
Folgen einer evtl. Traumatisierung des Kindes gering zu halten. Zum
anderen muss die Qualität der Bindungen des Pflegekindes an seine
Pflegeeltern untersucht werden, um die Frage zu klären, ob bei einem
Abbruch dieser Bindungen ein Schaden zu erwarten ist.
Hervorzuheben ist, dass das Familiengericht den Verbleib auch bei
vorhandener bzw. wiedergewonnener Erziehungsfähigkeit der leiblichen
Eltern anordnen muss, wenn das Pflegekind inzwischen zu stark in seiner
Pflegefamilie verwurzelt ist. Dies hat etwa das OLG Frankfurt (Beschluss
vom 28.02.2002, FamRZ 2002, 1277 f.) hervorgehoben. In dieser
Entscheidung heißt es:
„Es muss bei dem Sorgerechtsentzug auch bei wiedergewonnener
Erziehungsfähigkeit der Mutter bleiben, wenn die Aufhebung des
Sorgerechtsentzuges die derzeit stabile Entwicklung des Kindes gefährden
würde, weil sie mit der Unterbrechung der Bindungen zu den
Pflegeeltern, bei denen das achtjährige Kind seit dreieinhalb Jahren
lebt, einhergehen müsste“.
Ab welchem Zeitraum eine Verbleibensanordnung zum Wohle des Kindes geboten ist, läßt sich natürlich nicht pauschal beantworten. Zu individuell sind hier die maßgeblichen Faktoren. Ausschlaggebend ist etwa das Alter des Kindes bei seiner Inpflegegabe sowie die Vorgeschichte des Kindes. Hat das Kind etwa Vernachlässigung, Mißbrauch oder einen häufigen Wechsel von Bezugspersonen erfahren, so muss es als Risikokind gelten, das für die Folgen eines weiteren Bindungsabbruchs besonders sensibilisiert ist. Von Bedeutung ist auch die Frage, wie häufig es Umgangskontakte zu den leiblichen Eltern gab und wie diese verlaufen sind.
Der stets individuellen Situation wird hier nur eine Betrachtung im Einzelfall gerecht, welche durch das Sachverständigengutachten erfolgen soll. In der Wissenschaft haben sich jedoch Richtwerte herausgebildet, die sich am kindlichen Zeitbegriff orientieren. So wird davon ausgegangen, dass eine Verbleibensanordnung eines Kindes, das zur Zeit der Unterbringung noch keine drei Jahre alt war, nach maximal zwölf Monaten geboten ist. Ist das Kind zur Zeit der Unterbringung zwischen drei und sechs Jahren alt wird häufig ein Zeitraum von maximal vierundzwanzig Monaten angesetzt. (so die Prof. Schwab und Zenz im Gutachten zum 54. Deutschen Juristentag; vgl. auch Siedhoff, FPR 1996, 66; MüKo-Hinz, § 1632 Rnd 26).
Im Einzelfall und je nach der individuellen Geschichte des Kindes kann ein Sachverständigengutachten auch schon bei deutlich geringeren Zeiten den Verbleib empfehlen, da anderenfalls ein Schaden für das Kindeswohl zu erwarten wäre.
Quelle: RA Steffen Siefert